Der Weg in die geheimnisvolle Welt meines Vaters ist nur zwei Umdrehungen entfernt. Heute ist der Tag, an dem er mir den Schlüssel zum Gemeinschaftswerkkeller im Mehrfamilienhaus am Haferkamp 4a anvertraut. Hinter der schweren Metalltür, zwei Meter unter der hanseatischen Provinzerde, liegt das gelobte Land. Ein Kosmos, in dem Eigenverantwortlichkeit und Risikobereitschaft gelegentlich mehr wiegen als Vernunft und Verstand. Ich bin reif, gehöre jetzt dazu. Ich bin sieben Jahre alt.

Die 15 Quadratmeter hinter der Metalltür, die im Winter schön warm und im Sommer angenehm kühl auf mich warteten, wurden zu meinem Abenteuerspielplatz. Anfänglich reparierte ich dort mein BMX-Rad, im Alter von 16 Jahren frisierte ich dort eigenhändig meinen Vespa-Motor – 75er Polini, Rennwelle und die Überströmkanäle so groß gefräst, da konnte man Ziegelsteine durchwerfen. Ein wenig später küsste ich Steffi aus dem Haus 2b auf der Werkbank, zwischen Schraubstock und Bandschleifer, zum ersten Mal. Der Werkkeller ist bis heute ein Ort der guten Erinnerungen geblieben. 15 Quadratmeter, die ich liebte.

Der Motor, genau wie Steffi, trennte sich einige Wochen später von mir – sie in der Dorfdisko, er auf der Landstraße. Beides war überraschend schmerzhaft. Als ich mich mit aufgerissenen Klamotten und auf allen Vieren aus dem Gebüsch schleppte, kurz nachdem das Hinterrad in der Kurve aufgrund eines Kolbenfressersabrupt stehengeblieben war, wurde mir bewusst, dass zu einer wahren Liebe eine weitere Komponente gehört: das Leid. Es gibt eben Dinge, die, wenn sie zusammenfinden, zu mehr werden als bloß der Summe ihrer Einzelteile. Erst Sauerstoff ermöglicht eine Verbrennung, Sonne die Photosynthese, und eben das Leid die Liebe. Es ist doch erstaunlich: Was Leiden schafft, ist Leidenschaft – und eine Liebe ohne Leidenschaft ist die Mühe nicht wert.

Tim Gutke

Wenn man leidet, kann man den Ort aufsuchen, an dem man sich selber findet. Durch das Geschick der eigenen Hände und mit der Kraft der Fantasie transformiert man Leid in Liebe, wendet alles zum Guten. Eine Werkstatt ist der Katalysator der Emotionen. Einige, wohl überwiegend Männer, werden sagen, in der Werkstatt könne man wenigstens ein paar Stunden dem nervigen Büroalltag entfliehen, wunderbares Zeug anhäufen, das man nie braucht, und endlich mal wieder die Hände für etwas Sinnvolles einsetzen. Oder Krach machen. Oder einfach bei einem Bier wunderbar belanglose Musik im Radio hören. Stimmt alles, aber da ist noch mehr. Wäre es nur das, könnte man auch im Wohnzimmer auf der Couch hocken.

Einer Werkstatt haftet eben nicht der Makel einer Wohnung an. Sie unterwirft sich nicht der Idee, sie müsste ein heimeliger Ort sein. Es ist ein Platz, an dem geschafft und erschaffen wird, etwas entsteht, wo jeder auf seinem Niveau Gott spielen kann. Und: In einer Werkstatt kann man unbeschwert basteln, frickeln, stümpernund vor allem eines: grandios scheitern. Wo ist so etwas heute noch möglich? In einer Welt, in der alles auf Perfektion und Effizienz gedrillt ist, bleiben die Werkstatt, die Garage oder der Werkkeller vielleicht die letzten Zufluchtsorte für das Unperfekte.

Die Faszination, die eine Werkstatt auf mich ausübt, hat nie nachgelassen. Als ich dem Elternhaus im Haferkamp den Rücken kehrte, gab ich meinem Vater den Schlüssel zurück. Ich zog in Häuser mit Mietwohnungen in der Großstadt, in denen es nie Werkräume gab, immer nur Keller. Glücklicherweise fand ich aber wieder einen Ort zum Lieben: Alis Selbsthilfewerkstatt in einem Industriegebiet bei München. Manchmal fahre ich am Samstag zu Ali und hieve meinen Opel Manta A mit der Hebebühne in Richtung Hallendecke. Für sieben Euro je Stunde erkaufe ich mir die vermisste Freiheit – und ein Stück Jugend. Bei Ali treffe ich immer auf unterschiedliche Männer, aber stets auf gleiche Typen. Wir blicken uns in die Augen, nicken und wissen das Wichtigste voneinander: Wir alle sind hier, um unbeschwert basteln, frickeln, stümpern und grandios scheitern zu können. Ohne Leiden keine Liebe.

Text: Tim Gutke | Foto: Getty Images