Speed-Metall
Sein Leben als Artdirector hat Georges Ayusawa an den Nagel gehängt. Seither baut er Skulpturen aus Schrott.
Wer durch das Rolltor von Georges Ayusawas Werkstatt im schweizerischen Neuchâtel geht, landet mitten auf einem Schrottplatz. Alte Fahrradteile, mechanische Schreibmaschinen, Kupferkessel, Zahnräder, Küchensiebe, Uhren und Türklinken stapeln sich in raumhohen Metallregalen übereinander; Dosen, Büchsen, Helme, Schläuche, Trichter, Ketten, Speichen, Winkel und Platten in unterschiedlichen Größen und Formen. Was für andere wie Schrott aussieht, ist für Georges Arbeitsmaterial. Für Skulpturen, die aussehen, wie Heavy Metal sich anhört.
Malerei, Bildhauerei, Modellbau und Schnitzarbeiten – Georges’ Faszination geht durch alle Kunst- und Handwerksformen und begleitet ihn seit seiner Jugend. „Mit eigener Hände Arbeit etwas zu schaffen, zu verstehen, wie etwas funktioniert, das hat mich schon immer mit Stolz erfüllt“, sagt er. Vor einem Jahr wagte er dann den Schritt und hängte seinen alten Job als Artdirector und Production Designer in der Film- und Werbeindustrie an den Nagel. Seitdem steht er jeden Tag in seiner Werkstatt, wo er seine Leidenschaft für alles, was fährt, Krach macht und ordentlich nach Benzin riecht, ausleben kann.
Georges’ Stil ist einzigartig. Elemente von Retrofuturismus, Punkrock, Heavy Metal und Steampunk finden sich darin ebenso wieder wie seine große Leidenschaft für Motorraddesign. Seine künstlerischen Vorbilder reichen dabei vom Alien-Designer H.R. Giger über den tschechischen Jugendstilkünstler Alfons Mucha bis hin zu Muppets-Puppenbauer Jim Henson.
Sein aktuelles Projekt: die „Speed Devils“. Seit Monaten entwirft und baut er Miniatur-Fahrzeugmodelle aus entsorgten Metallgegenständen. An ihren Lenkrädern: Skelette. „Meine „Speed Devils“ sollen all den Draufgängern dieser Welt Tribut zollen, die die Grenzen jener Maschinen, die sie bauen, bis ins Extreme austesten“, sagt der 48-Jährige. „Sie lassen uns den Duft von Freiheit schnuppern.“ Aber warum Skelette auf den Fahrersitzen? „Ich mag die Ironie, Totes mit Lebendigem zu mischen, weggeworfenen Dingen neues Leben einzuhauchen.“
Vier Modelle hat er bereits fertig: „First Ride“, „Speed Meteor“, „Isadora“ und „The Hearse“. In den kommenden Monaten will er noch einmal genauso viele bauen, dann eine Ausstellung organisieren. Bis die eröffnet, könnte es allerdings noch etwas dauern. Schließlich stecken zwischen zwei bis sechs Monate Arbeit in einem Modell – je nachdem, wie viele Details und Funktionen Georges einbaut. Das kleinste ist 60, das größte 136 Zentimeter lang. Ordentlich Gewicht auf die Waage bringen sie alle: acht Kilo immerhin das leichteste, 23 Kilo das schwerste.
Was er außer altem Metall noch dafür braucht, sind Totenschädel. Künstliche, versteht sich. Georges formt und schnitzt sie eigenhändig – aus Plasticine, einer besonderen Modelliermasse aus Kalziumsalzen, Vaseline und Fettsäuren sowie einer Geheimzutat, die nur er selber kennt. „Schließlich brauchen meine ,Speed Devils‘ auch passende Fahrer“, lacht Georges. Damit die Schädel eine realistische bräunliche Patina erhalten, die von echter mumifizierter Haut kaum zu unterscheiden ist, beklebt er sie rundum mit Klebeband und kokelt sie dann an.
Alle Fahrzeuge und Figuren, die in Georges’ Werkstatt entstehen, sind handgefertigte Unikate. Das Design entsteht spontan oder nach einer vagen Skizze. Erst beginnt er nach Materialien zu suchen, die er meist auf Flohmärkten und Schrottplätzen oder über Bekannte findet. Dann wird zusammengesetzt, was niemals zusammengehörte. Bei seinem „Speed Meteor“ zum Beispiel bildet ein Diaprojektor-Fuß aus den 1950er-Jahren die Basis des Modells, die silbern schimmernde Front hat Georges aus einem alten Metalltrichter aus Omas Küche zurechtgeklopft. „Ich probiere einfach aus, Dinge zusammenzusetzen – und wenn es gut aussieht, mach ich weiter!“, sagt Georges. „Und wenn es besser aussieht als gedacht, mach ich mit einem Lächeln weiter.“
Dieses Lächeln wird besonders breit, wenn Georges die Idee für eine besondere Zusatzfunktion kommt, die er gern in seinen Kunstwerken versteckt. Mal flackert auf Druck eines verborgenen Knopfs ein Licht grünlich auf. Mal setzt ein Schalter den laut ratternden Schlitten einer mechanischen Schreibmaschine in Gang, die Georges verbaut hat. Oder es öffnet sich ein Sarg im Kofferraum eines Leichenwagens und offenbart ein grinsendes Skelett. Georges liebt es, Dinge zum Leuchten zu bringen, zum Leben zu erwecken und andere zu überraschen. Ein Spielzeugmacher seines eigenen Spielzeugs. Ein Geppetto, der nicht mit Holz, sondern mit Metall arbeitet.
Begonnen hat alles – wie so oft im Leben – mit einem Zufall. Ein Freund war 2017 mit einer Bitte an Georges herangetreten. Er sollte für einen Kunden ein Vergnügungszentrum mit Bar, Restaurant und vier Kinosälen im Retrofuturismus-Stil ausstatten. Und suchte noch händeringend nach jemandem, der ihm bei der Dekoration helfen könnte.
Georges’ Neugier war geweckt: Eine erste Serie von Neuinterpretationen berühmter Pop-Ikonen entstand, die allesamt aussahen, als wären sie dem 19. Jahrhundert entsprungen: Darth Vader, Batman, Iron Man, WALL·E, Lightning McQueen, Yoda und der Millennium Falcon, um nur einige zu nennen. Als Reaktion darauf gab es – neben Fanpost aus aller Welt – auch einen lukrativen neuen Auftrag, der volle kreative Kontrolle versprach: Georges hatte nun freie Hand, zu schaffen, was seine Fantasie hergab – und wagte den Schritt.
Im Moment erhält Georges so viele Aufträge, dass er kaum noch Zeit für seine „Speed Devils“ hat. Im Januar will er sich dann aber wieder ganz den höllischen Motorradmodellen widmen. „Mein Traum ist es, eines Tages einen funktionierenden „Speed Devil“ in Lebensgröße zu bauen“, sagt Georges. „Dafür muss ich allerdings noch lernen, wie man professionell schweißt und Motoren baut. Und dann: Motor an und einfach losfahren … eine endlos weite Straße hinunter.“
Text: Jens Wiesner I Fotos: Lena Giovanazzi