Ein Herz und eine Säge
Sebastian Buchwiesers Passion: Holzskulpturen. Seine Devise: Je größer, desto besser.
Bergsonne, Regenwasser, Minustemperaturen. Das sind Sebastian Buchwiesers starke Kollegen. Will der 56-Jährige eine seiner Skulpturen perfektionieren, lässt er sie einfach im Garten stehen. Die natürlichen Helfer bearbeiten das Holz. Gratis. Bis es so aussieht, wie Sebastian das möchte. Sonnenstrahlen verdunkeln das Holz, Feuchtigkeit lässt es ergrauen, Kälte erzeugt Risse und Brüche. „Sonne, Wasser und ich sind quasi ein Team“, sagt Sebastian.
Früher war Sebastian einer der vielen traditionellen Holzschnitzer, die es im Alpenraum gibt: „Jesus am Kreuz, der heilige Christophorus, Ochs und Esel für Krippen, St.-Andreas-Figuren“, erinnert er sich. „Irgendwann hatte ich keine Lust mehr aufs Filigrane und immer das Gleiche.“ Er begann, eigene Ideen umzusetzen. Griff zur Kettensäge. Erfand sich komplett neu. „Ich mag das Grobe, die großen Formen, eher wenige Details“, sagt er und hebt mit einem Ruck einen schweren Lärchenholzblock aus dem Muldenkipper seines roten 1978er-Renault-Traktors. „Wenn ich mich zu sehr auf die winzigen handwerklichen Einzelheiten konzentriere, verliere ich den Blick aufs große Ganze“, sagt er.
Mit seiner Leidenschaft wuchs auch die Größe der Kunstwerke. Da hängt eine gigantische Holzspinne – vom Ende der Hinterbeine bis zum Ende der Vorderbeine 2,40 Meter lang – in einem Netz aus Drahtseilen im Bergwald. Ein Flößer steht überlebensgroß auf Holzrundlingen an der Isar. Eine fünfköpfige Familie aus Lindenholz, eine Riesenkuh, abstrahierte Skifahrer – Sebastian verwandelt seine Umgebung in Holz. „Ich will, dass man meine Kunst sieht“, sagt er, „und da sie im Freien steht, muss sie eine gewisse Größe haben, muss eine Wucht sein.“ Es geht Sebastian darum, Verbindungen zu bauen: „Zwischen der urwüchsigen Natur und den Entwicklungen, die sie bedrohen. Zwischen den Traditionen meiner oberbayerischen Heimat, die Stück um Stück verloren gehen, und der digitalen Zeit. Mit meiner Kunst will ich aufmerksam machen auf das, was momentan vor sich geht. Aufrütteln. Aber nicht mit künstlerischen Schockmomenten, sondern mit einem kleinen Zwinkern im Auge.“
Sebastian kommt aus Grainau. Ein Dorf unterhalb von Deutschlands höchstem Berg, der Zugspitze. Hier, auf fast 800 Meter Meereshöhe, ist er geboren und aufgewachsen. In dem 370 Jahre alten Bauernhaus lebt er noch heute, gemeinsam mit seiner Familie und seinen Eltern. Seine Heimat findet sich auch in seinen Werken wieder. Diese nennt er: „Groan-Art“. In dem Kunstwort verbirgt sich die Verbundenheit zu seinem Geburtsort Grainau - auf Bairisch „Groanau“ aus. Es ist das englische Wort „art“ für Kunst enthalten und „groan“, was auf Bairisch „wachsen“ heißt. In nur acht Buchstaben drückt der Bildhauer seine Verwurzeltheit und sein Kunstverständnis aus. Sebastian will zeigen, wie wichtig die Natur für den Menschen ist – und wie bedroht. Die große Spinne, die im Bergwald hängt, zum Beispiel: „Die ist sehr flexibel, jedes der acht Beine ist ganz locker am Körper befestigt. Weht der Wind, bewegt sich das Netz, aber auch die Spinne. Genau wie in der Natur.“ Sebastian führt damit auch vor, wie verletzbar die Natur – und deren Abbild – ist. „Stünde die Skulptur irgendwo im Stadtpark, würde sie bald schon von Menschen aus Spaß beschädigt werden. Oben zwischen den Bäumen kommt niemand so leicht hin“, sagt er und grinst. Praktischer Insektenschutz. Oder die „Stanker“. Das sind die Holzpfähle mit Querverstrebungen, auf die die Bauern früher das Heu zum Trocknen gehängt haben. Sebastian entwarf verschiedene Formen der auch „Heumännchen“ genannten Pfähle, bemalte sie bunt. „Ich wollte zeigen, wie diese bäuerliche Tradition vom Aussterben bedroht ist. Jetzt sehen die Menschen das Kunstprojekt in Garmisch-Partenkirchen öffentlich ausgestellt, fragen sich, was das denn eigentlich ist und beginnen darüber nachzudenken.“
Vergangenen Winter hat Sebastian die Skulptur einer Frau begonnen. Die fertige Holzfrau steht seit einigen Monaten im Garten. Jetzt ist der dazugehörige Hund an der Reihe. Sebastian zückt die Motorsäge, den Lärchenblock fest im Blick. Feiner Sägestaub fliegt in alle Richtungen, größere Späne ringeln sich auf dem Boden. Immer wieder greift Sebastian zum Smartphone. Schaut auf das Foto eines Hundes, der als Vorbild dienen soll. Langsam, ganz langsam, nimmt der Block Hundegestalt an. „Es ist immer so“, meint Sebastian, und er klingt, so sagt er, wie ein Chirurg, „erst kommt die Säge, dann das Messer. Wenn ich mit der Motorsäge einen Fehler mache, kann ich den mit dem Messer nicht wieder gut machen“.
Mit Holz ist er groß geworden. Dem Geruch von Linde und Lärche. Der Struktur von Eiche und Fichte. Den fast täglichen Umgang mit „dem Hoiz“, wie er sagt. All das hat ihn sein Leben lang begleitet. Inzwischen arbeitet er schon seit 40 Jahren Seite an Seite mit seinem 85 Jahre alten Vater Karl in der Werkstatt, die früher ein Kuhstall war. Sein Vater ist Holzschnitzer alter Schule, und auch der Großvater hat schon vor 100 Jahren mit traditionellen Holzarbeiten sein Geld verdient. „Mein Vater und ich sind recht verschieden“, sagt Sebastian, „aber wir lernen jeden Tag voneinander.“ Wenn sie nebeneinander sitzen und jeder an seinem eigenen Werk arbeitet, merkt Sebastian immer wieder, was für ein „unglaubliches Holzgefühl“ sein Vater hat, wie er das perfekte Holzstück für seinen Zweck findet und dies dann individuell formt. „Aber er hat ja auch fast 30 Jahre Vorsprung“, sagt Sebastian. Und der Vater bewundert den Mut, den anderen Blick, die Freiheit, die der Sohn mit in die Werkstatt bringt.
Wenn Sebastian über die Werkstatt spricht, schwingt fast schon so etwas wie Ehrfurcht mit. „Sie war ein heiliger Ort“, erzählt Sebastian. „Als Kind durfte ich die Schnitzeisen von meinem Vater nicht einmal berühren.“ Er streicht sanft über die Klinge eines Elfereisens. „Natürlich habe ich das heimlich trotzdem gemacht.“ Die Augen blitzen hinter der dicken Brille. „Das war schon sinnvoll, das Verbot. Heutzutage müssen Kinder ja alles immer gleich anfassen, aber die Eisen sind sehr scharf, da ist schnell ein Finger weg.“
An den Wänden der Werkstatt das Sammelsurium eines guten Jahrhunderts: Holzrechen, ein Steinbockgeweih, ein ledernes Ochsengeschirr, ein rostiges Waldhorn, ein Reibhaken, mit dem schon der Großvater tonnenschwere Bäume im Wald bewegt hat, alte handgemalte Zielscheiben. In der Ecke eine Drechsel- und eine Ständerbohrmaschine für Stuhlfüße. Den Hunde-Rohling hat Sebastian jetzt auf dem Schnitzbock befestigt, ein 100-Kilo-Felsbrocken hält den Bock davon ab zu verrutschen. Mit einem hölzernen Klöppel schlägt er aufs Eisen, rötliche Lärchenholzstücke fallen auf den Boden. Staub steht in der Luft. Bis auf das gleichmäßige Klopfen ist es ganz still in dem lichtdurchfluteten Raum. Grobe Proportionen zeichnet er mit einem Bleistift aufs Holz, dann kommen feinere Hohleisen zum Einsatz, schaben kleine Vertiefungen ins Holz. „Eigentlich ganz einfach“, sagt er, tritt zurück und wirft einen prüfenden Blick aufs Holztier, „man muss nur das wegmachen, was nicht dazugehört.“
Viele Messer, die der Bildhauer verwendet, sind durch mehrere Generationen Buchwieser-Hände gewandert. „Gutes Werkzeug macht nicht 90 Prozent des Erfolgs aus, sondern 100 Prozent“, meint er. Die Klingen stammen aus Manufakturen aus dem Tiroler Stubaital. Die hölzernen Handgriffe haben er selbst, sein Vater oder sein Großvater aus Haselnussholz maßgefertigt. „Jede Hand ist anders“, sagt Sebastian und streichelt über die abgenutzten Schäfte. Zum Schleifen der Messer nimmt Sebastian einen „Belgischen Brocken“, einen seltenen Naturstein aus den Ardennen, dann geht er mit einem Abziehleder über die Schneide.
Manchmal muss man die Arbeit einfach stehen lassen. Die Skulptur entwickelt sich fort. Ich entwickle mich fort."
Sebastian Buchwieser
Gern verwendet Sebastian das Wort „erschaffen“ für das, was er macht. Und wenn er von seinen „Erschaffungen“ redet, klingt es so, als spräche er über einen Freund: „Manchmal muss man die Arbeit einfach stehen lassen. Die Skulptur entwickelt sich fort. Ich entwickle mich fort. Irgendwann kommen wir beide wieder zusammen und gehen dann gemeinsam weiter.“ Das klingt philosophischer, als er das meint. Beschreibt aber ganz gut, wer er ist. „Als Bergführer ist es gut, wenn ich erst überlege, was ich mache. Die Risiken durchspiele. Abwäge. Dann handle. Oder zurückgehe.“ Bei seiner Kunst ist es ähnlich. Lange grübelt er, wie er mit einer Skulptur weitermacht. Schläft drüber. Schaut sich das Stück wieder und wieder an. Manchmal lässt er es einfach ein paar Monate stehen. „Ich bin ein Holzdenker“, sagt Sebastian dann langsam, „ich will mich nicht hetzen lassen. Bäume kann man auch nicht antreiben.“
Ich bin ein Holzdenker. Ich will mich nicht hetzen lassen. Bäume kann man auch nicht antreiben."
Sebastian Buchwieser
Durch die Fenster der Werkstatt fällt der Blick auf den Hof. Dort steht eine schlanke Skulptur, die Sebastian „Seele“ genannt hat. Ein glatt geschliffener, elegant in sich verwrungener Baum. Man muss unwillkürlich über seine Oberfläche streichen. „Das war kein gut aussehender Stamm“, erinnert er sich, „aber ich wollte die Schönheit des Inneren rausholen. Ich glaube, es ist gelungen.“ Mit „Groan-Art“ zeigt Sebastian „den schönsten nachwachsenden Rohstoff der Welt“ und seine Vergänglichkeit. Wie das Wetter und das Alter ihn formen, verformen und verändern. „Ein bisschen“, grübelt er, „ein bisschen ist das Holz wie der Mensch.“
Text: Stefan Wagner I Fotos: Frank Bauer, Sebastian Buchwieser